Kann die evolutionäre Spieltheorie die Entstehung von Kooperation erklären?
Studie über die Schwächen eines formalen Ansatzes

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Theorie der „Evolution der Kooperation“
    2.1 Was die Theorie der „Evolution der Kooperation“ zu erklären beansprucht
    2.2 Die Gestalt der Erklärungen der Theorie der „Evolution der Kooperation“
        2.2.1 Axelrod's Theorie der Evolution der Kooperation
        2.2.2 Schüßler über Kooperation unter Egoisten
        2.2.3 Hirschjagdspiel statt Gefangenendilemma
        2.2.4 Kooperation und Reputation
    2.3 Ein erfolgreicherer Typus von Theorie zum Vergleich: Die Logik des kollektiven Handelns
3 Die Erklärungsdefizite der Theorie der „Evolution der Kooperation“
4 Fazit
5 Anhang: Quellcodes und Beispielsimulationen
6 Revisionsgeschichte
Literaturverzeichnis

2.2.2 Schüßler über Kooperation unter Egoisten

Die Varianten und Erweiterungen von Axelrods Theorie sind vielfältig und zahlreich. Es würde zu weit führen, sie an dieser Stelle sämtlich aufzuzählen.[5] Statt dessen sollen lediglich zwei Varianten der Theorie der „Evolution der Kooperation“ vorgestellt werden, die besonders interessante Weiterentwicklungen der Theorie darstellen.

Die Erste Variante ist Rudolf Schüßlers Modell der Kooperation auf anonymen Märkten (Schuessler 1997). Schüßler bedient sich für sein Modell ebenfalls des paarweisen wiederholten Gefangenendilemmas, aber er wandelt die Spielsituation in einem entscheidenden Punkt ab. In Axelrods Modell ist die Zahl der Wiederholungen des Gefangenendilemma entweder fest vorgegeben oder durch eine Abbruchwahrscheinlichkeit bestimmt. Diese Vorgabe ist nach Axelrods Analyse von entscheidender Bedeutung, denn nur wenn der „Schatten der Zukunft“ hinreichend lang ist, kann sich im wiederholten Gefangenendilemma kooperatives Verhalten stabilisieren. Interessanterweise weicht Schüßler aber genau von dieser Vorgabe ab. In seinem Modell hat jeder Spieler die Möglichkeit, das Spiel zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu beenden, und zwar, was noch erstaunlicher ist, ohne dass ihm diese Exit-Option durch unmittelbare Kosten (in Form einer Strafzahlung oder dergleichen) vergällt wird.[6] Man sollte meinen, dass unter diesen Bedingungen die Kooperation rasch zusammenbricht und sich unter den Spielern eine „hit and run“ Strategie evolutionär etabliert. Gerade dies ist aber nicht der Fall, sondern - je nach Wahl der Parameter (wie immer bei dieser Art von Simulation) - können sich auch unter dieser Bedingung kooperative Strategien durchsetzen. Auch dafür ist - ebenso wie in Axelrods Simulation - der Schatten der Zukunft verantwortlich, denn Schüßlers Simulation weicht noch in einem weiteren Punkt von Axelrods Simulation ab. In Axelrods Simulation spielt (in jeder Generation) jeder Spieler gegen jeden, wobei die Häufigkeit der Begegnungen bzw. bestimmter Paarungen nur noch von dem Gewicht der Spieler in der Gesamtpopulation bestimmt ist. Anders bei Schüßler: Ein Spieler, der das Spiel abbricht, muss sich für die nächste Spielrunde (innerhalb desselben Generationszyklus) einen neuen Partner suchen. In Frage kommen dafür natürlich nur Spieler aus einem Pool von freien Spielern, d.h. derjenigen Spieler, die das Spiel nach der letzten Runde ebenfalls abgebrochen haben (oder deren Spiel durch ihren Partner unterbrochen wurde) (Schuessler 1997, S. 66ff.). Nun kann man sich leicht überlegen, dass sich in diesem Pool von freien Spielern nach einiger Zeit überproportional viele Betrüger sammeln, denn kooperative Spieler werden, wenn sie einander einmal gefunden haben, danach streben, die Kooperation möglichst lange fortzusetzen (bis ihr Spiel zufällig von Außen abgebrochen wird, eine Bedingung, die Schüßler ebenfalls in seine Simulation eingebaut hat), so dass sie dem Pool der freien Spieler entzogen bleiben. Indirekt entstehen den Betrügern auf diese Weise doch noch Kosten für den Gebrauch ihrer Exit-Option, denn sie sind gezwungen (im Extremfall nach jeder Runde) ihre Partner aus einer Menge von Strategien zu wählen, die sich größtenteils aus Betrügern und damit aus Strategien zusammensetzt, an denen sich nicht viel verdienen lässt.

Insgesamt lautet der (durchaus überraschende und damit theoretisch interessante) Befund, dass Kooperation auch auf anonymen Märkten ohne Appellationsinstanz entstehen kann. Natürlich hängt das Auftraten dieses Phänomens sehr stark von der spezifischen Modellsituation ab. Wandelt man die Modellsituation ab, indem man die Steuerparameter ändert oder andere Faktoren berücksichtigt (denkbar wäre etwa die Erweiterung der Simulation um die Möglichkeit einer Partnerablösung; in diesem Fall dürfte ohne Ostrazismus bzw. Reputation keine Kooperation mehr zu erwarten sein), dann fällt auch das Ergebnis anders aus, d.h. es kann ebensogut zum völligen Zusammenbruch der Kooperation auf anonymen Märkten kommen. Die Simulation zeigt also nicht, dass etwas der Fall sein wird, sondern nur, dass etwas sein könnte. Das wirft natürlich die Frage auf, wie gehaltvoll die Ergebnisse von Simulationen in inhaltlicher Hinsicht eigentlich sind. Denn wenn das Ergebnis einer Simulation lediglich in der Feststellung besteht, dass irgendetwas sein kann oder auch nicht sein kann, dann klingt das zweifellos nicht besonders interessant oder gehaltvoll. Es ist Schüßler hoch anzurechnen, dass er sich dieses Problems einigermaßen bewusst bleibt (Schuessler 1997, S. 91/92). Anders als Axelrod verfährt Schüßler sehr viel selbstkritischer (und damit intellektuell redlicher). Wie rechtfertigt Schüßler dann aber seinen Ansatz?

Schüßler motiviert seinen Ansatz durch die Anküpfung an eine klassische Diskussion der Soziologie, die sich um die Frage dreht, ob eine Gesellschaft zusammengehalten werden kann, die nur noch auf den Einzelegoismen atomisierter Individuen beruht, wie dies in der Konsequenz eines gesellschaftlich zunehmend an Dominanz gewinnenden Kapitalismus zu liegen scheint, der den Typus des Geschäftsmannes (und damit des rationalen Egoisten) zum maßgeblichen Typus emporzuheben scheint. Während Herbert Spencer es noch begrüßte, wenn anstelle brutaler Militärs wackere Kaufleute gesellschaftlich den Ton angeben, befürchteten Durkheim und Tönnies, dass sich die notwendige gesellschaftliche Kohäsion ohne klare Normen, die sich auf entsprechend starke normvermittelnde Institutionen stützen, nicht herstellen lässt (Schuessler 1997, S. 9-16). Zu dieser Diskussion hofft Schüßler einen Beitrag liefern zu können durch die Demonstration, dass rationaler Egoismus kooperatives Verhalten nicht schon logisch unmöglich macht. Es fragt sich natürlich - Schüßler wirft selbst diese Frage auf (Schuessler 1997, S. 91/92) -, ob die Vertreter des „Normativismus“ ein solches Prinzip überhaupt voraussetzen müssen, um ihre Argumentation aufrecht erhalten zu können. Man muss Kooperation unter Egoisten nicht für unmöglich halten, um die Vorstellung, dass alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens durch Märkte geregelt werden, wenig erbaulich zu finden. Im Zweifelsfall könnte sich ein Normativist ja auch immer auf den Standpunkt zurückziehen, dass die Verhältnisse in der wirklichen Gesellschaft eben eher in dem Parameterbereich liegen, in dem die Kooperation in der Simulation zusammenbricht.

Auf einer noch etwas tieferen Ebene rechtfertigt Schüßler seinen Ansatz durch einen Hinweis auf Thomas Hobbes und das sogenannte Hobbessche Problem. Damit wird der Zusammenhang zur Gesellschaftsvertragsphilosophie hergestellt. Unter dem Hobbeschen Problem versteht Schüßler dabei die Frage, ob ein geordnetes Zusammenleben unter egoistisch gedachten Menschen ohne starke Zentralgewalt möglich ist (Schuessler 1997, S. 44/45). Thomas Hobbes hielt eine solche Zentralgewalt (und möglichst eine, die nicht zu zimperlich wäre) bekanntlich für notwendig. Fairerweise muss eingeräumt werden, dass sich Schüßler sehr wohl darüber im Klaren ist, dass die Intention der Hobbesschen Gesellschaftsvertragstheorie, in der es um die Rechtfertigung und Erklärung von Herrschaft und politischer Ordnung geht, sich nicht in der Lösung des Hobbesschen Problems erschöpft. „Hobbessches Problem“ sei eher eine Bezeichnung für eine bestimmtes abstrakt gefasstes Kooperationsproblem, das mit Hobbes' Philosophie nicht unbedingt in engem Zusammenhang stehen müsse (Schuessler 1997, S. 146 Anmerkung 6)). Andere Spieltheoretiker, wie z.B. Bryan Skyrms, äußern sich weniger vorsichtig und vertreten die Ansicht, dass sich die Fragen, die zu Hobbes Zeiten nurmehr verbal behandelt werden konnten, dank der evolutionären Spieltheorie inzwischen mit modernen wissenschaftlichen Methoden behandelt werden können. Wir werden darauf später noch zurückkommen. Zunächst ist festzuhalten, dass Schüßler eine interessante Erweiterung des Axelrodschen Modells liefert. Allerdings kehren auch in seiner Simulation dieselben grundlegenden methodischen Probleme wieder, die sich schon bei Axelrod finden, nur dass Schüßler sich dieser Probleme bewusst ist und sie offen erörtert.

[5] Für eine knappe Zusammenfassung (Hoffmann 2000). Ein ausführlichere Bibliographie bis 1994 findet sich bei (Axelrod/Dambrosio 1994)

[6] Der Programmcode sowie die Ergebnisse einer solchen Simulation sind in Anhang 5.2 aufgeführt.

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