Kann die evolutionäre Spieltheorie die Entstehung von Kooperation erklären?
Studie über die Schwächen eines formalen Ansatzes

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Theorie der „Evolution der Kooperation“
3 Die Erklärungsdefizite der Theorie der „Evolution der Kooperation“
4 Fazit
5 Anhang: Quellcodes und Beispielsimulationen
6 Revisionsgeschichte
Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Die evolutionäre Spieltheorie erfreut sich seit etwa 30 Jahren größter Beliebtheit. Ursprünglich von Biologen entwickelt um strategische Aspekte der Evolution, wie z.B. häufigkeitsabhängige Selektion, zu beschreiben, wird sie heute als Teildisziplin der Spieltheorie in den unterschiedlichsten Fachbereichen (Biologie, Ökonomie, Soziologie, Politische Wissenschaften) angewendet. Erheblichen Auftrieb erhielt die evolutionäre Spieltheorie vor allem durch die Veröffentlichungen von Maynard-Smith und Robert Axelrod anfang der 80er Jahre. Besonders Axelrod trug durch den innovativen Gebrauch von Computersimulationen und durch die Breite seiner Anwendungsbeispiele wesentlich dazu bei, die evolutionäre Spieltheorie als wissenschaftlichen Ansatz in den unterschiedlichsten Fachbereichen zu popularisieren. Große Hoffnungen verbanden sich mit diesem neuartigen Ansatz. Indem nämlich die evolutionäre Spieltheorie nicht an die strikten „rational choice“ Annahmen gebunden ist, durch die manche Gedankengänge der konventionellen Spieltheorie oft so überaus artifiziell erscheinen,[1] konnte man erwarten, dass die evolutionäre Spieltheorie als verfeinerte und flexiblere Form der Spieltheorie neue Anwendungsbereiche erschließen würde; darunter womöglich auch solche, die einer formal exakten Theoriebildung bisher überhaupt verschlossen geblieben waren. Letzteres schien umso mehr zu gelten als der Einsatz von Computertechnik, die sich zur selben Zeit rasch entwickelte, die formale Modellbildung sowohl stark vereinfacht als auch ihre Leistungsfähigkeit drastisch erhöht.

Haben sich diese teils recht hochgespannten Erwartungen inzwischen erfüllt? Dass neuartige Ansätze immer auch Kritik auf den Plan rufen, ist an sich nichts Ungewöhnliches (Alexander 2003). Aber während es in den frühen Tagen der evolutionären Spieltheorie noch anging, berechtigte Kritik durch den Hinweis zu entkräften, dass es sich eben um eine noch junge Disziplin handele (Schuessler 1997, S. 38), die noch weiterentwickelt werden müsse, so können über 20 Jahre später derartige Entschuldigungen nicht mehr gelten. Es ist vielmehr an der Zeit, nüchtern Bilanz zu ziehen, was die simulationsgestützte evolutionäre Spieltheorie bisher hat erreichen können, und welche Leistungen man von diesem Ansatz in Zukunft noch wird erwarten dürfen. Um einen Beitrag zu einer solchen Bilanz zu leisten, möchte ich im Folgenden untersuchen, was die Theorie der Kooperation, wie sie von Axelrod beschrieben und von zahlreichen Nachahmern und Nachfolgern verfeinert und ausgebaut worden ist, in Anwendung auf unterschiedliche Problemstellungen leistet. Hinsichtlich dieser Anwendungsbeispiele, die vorwiegend dem historisch-politischen Bereich entnommen sind, fällt meine Bilanz eher sehr skeptisch aus:

  1. Auch der evolutionären Spieltheorie gelingt nicht die Urzeugung mathematisch exakter gesellschaftswissenschaftlicher Theoriebildung. Formale Modelle werden in den Gesellschaftswissenschaften auch in Zukunft nur ein marginalisiertes Dasein fristen als (allerdings unerläßliche) Hilfswissenschaften wie z.B. die Sozialstatistik oder eingebettet in einen umfassenderen und wesentlich nicht formalen Erklärungskontext.
     
  2. Die Computermodelle der evolutionären Spieltheorie erweisen sich in hohem Maße als „explanatorisch irrelevant“ (Alexander 2003), indem ihre Anwendung eine sehr präzise Situationsbeschreibung voraussetzt, aus der sich die Erklärung der Sitaution oft schon ohne Modell ergibt.
     
  3. Nur in Ausnahmenfällen ist eine Beschreibung der Problemsituation möglich, die so exakt ist, dass sie es erlaubt, mit einem formalen Modell überhaupt anzusetzen. Erfordert wird hierfür, dass (1) sämtliche kausal relevanten Einflussgrößen im Modell erfasst werden, und dass (2) die entsprechenden Parameter genau genug gemessen werden können, um stabile Vorhersagen durch das Modell zu ermöglichen. Sind diese Bedingungen, wie es leider häufig der Fall ist, nicht gegeben, dann schrumpft das Erklärungspotential formaler Modelle auf das epistemologische Niveau bloßer Metaphern zusammen.
     
  4. Die mathematisch-technische Verfeinerung der formalen Modellierung und die Erprobung immer neuer Varianten von Computersimulationen allein führt weder zu einer Erweiterung des Anwendungsbereichs der Theorie der „Evolution der Kooperation“ noch wird sie durch eine Erhöhung der Erklärungskraft der Theorie belohnt. Impulse für die Weiterbildung dieses Ansatzes sind - wenn überhaupt - nur von der Empirie zu erwarten.

Da die Beispiele, auf die sich dieser Befund stützt, sich weitgehend auf die Theorie der „Evolution der Kooperation“ beschränken, berühren sie natürlich nur einen Teilbereich der evolutionären Spieltheorie, auch wenn zu befürchten ist, dass die Grundprobleme die evolutionäre Spieltheorie im Ganzen betreffen, besonders dann wenn sie außerhalb von Biologie und Ökonomie angewendet wird. In gewisser Weise spiegeln die Schwächen der evolutionären Spieltheorie dabei nur die Schwierigkeiten wieder, denen Versuche der exakten Theoriebildung in bestimmten Wissenschaftsbereichen immer wieder begegnen.

Nun könnte man einwenden, dass bei den oben angeführten Punkten Erwartungen an die evolutionäre Spieltheorie gestellt werden, die höchstens von übermäßig selbstbewussten Vertretern der Disziplin genährt werden, während in Wirklichkeit eine sehr viel besonnenere Haltung vorherrscht. Dabei scheint die evolutionäre Spieltheorie aber in das Dilemma zu geraten, dass sie sich entweder hochgesteckte Ziele setzen kann, die bis hin zu dem Anspruch reichen, Probleme der Gesellschaftsvertragstheorie spieltheoretisch erörtern zu wollen, denen die spieltheoretischen Modelle dann aber nicht ansatzweise gerecht werden, oder sich bescheiden auf den Standpunkt zurückziehen kann, dass Modelle eben nur Modelle sind, die keine unmittelbaren Schlussfolgerungen auf die Wirklichkeit zulassen, was dann zwangsläufig die Frage aufwirft, wozu die Erforschung von Modellen eiegentlich gut ist.

Fairerweise muss jedoch eingeräumt werden, dass selbst in Wissenschaftsbereichen, die in der Regel keine exakte Theoriebildung zulassen, die evolutionäre Spieltheorie auch Einiges auf der Haben-Seite zu verbuchen hat:

  1. Die (evolutionäre) Spieltheorie liefert ein reichhaltiges Reservoir an Metaphern und Modellbeispielen, die unsere wissenschaftliche Vorstellungskraft und die „Fantasie für das Mögliche“ erheblich bereichern.
     
  2. Insbesondere erlaubt es die Theorie der „Evolution der Kooperation“, vereinfachte und falsche Vorstellungen über die Natur und das Ergebnis evolutionärer Prozesse, wie z.B. das „Überleben der Stärkeren“, die Unmöglichkeit egoistischer Kooperation etc., begründet zurückzuweisen.
     
  3. Die evolutionäre Spieltheorie leistet einen konstruktiven Beitrag zur Kritik allzu enger „rational choice“ Annahmen. Sie trägt, indem sie eine glaubwürdige Alternative anbietet, zum besseren Verständnis davon bei, warum sich in vielen Situationen gerade nicht egoistisch-rationales Verhalten langfristig durchsetzt.

[1] Ein Beispiel ist das Argument der Rückwärtsinduktion, das für das endlich oft wiederholte Gefangenendilemma den Zusammenbruch von Kooperation vorhersagt. Das Argument der Rückwärtsinduktion trifft nur unter der Voraussetzung unbedingter wechselseitiger Rationalität zu. Ein evolutionäres System konvergiert nur extrem langsam zu dieser Lösung, und auch der experimentellen Befund steht mit dem Argument nicht im Einklang.

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