Kann die evolutionäre Spieltheorie die Entstehung von Kooperation erklären?
Studie über die Schwächen eines formalen Ansatzes

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Theorie der „Evolution der Kooperation“
3 Die Erklärungsdefizite der Theorie der „Evolution der Kooperation“
    3.1 „Leben und leben lassen“ im ersten Weltkrieg
    3.2 Stichlinge und Buntbarsche
    3.3 Wenn weiche Wissenschaft harte Wissenschaft schlägt: Spieltheorie und klassische Gesellschaftsvertragstheorie
4 Fazit
5 Anhang: Quellcodes und Beispielsimulationen
6 Revisionsgeschichte
Literaturverzeichnis

3 Die Erklärungsdefizite der Theorie der „Evolution der Kooperation“

Bis zu diesem Punkt wurde die Theorie der „Evolution der Kooperation“ lediglich in ihrer abstrakten Form ohne Bezug zu etwaigen empirischen Anwendungsmöglichkeiten vorgestellt. Dabei wurden verschiedene Varianten und Abwandlungen der Theorie vorgestellt, sowie mit Mancur Olsens „Logik des kollektiven Handelns“ eine Alternativtheorie beschrieben, wobei mit „Alternativtheorie“ nicht gemeint ist, dass sie in einer unmittelbaren Konkurrenz zum Axelrodschen Ansatz steht, sondern lediglich, dass es neben den von Axelrods Theorie erfassten Kooperationsproblemen auch andere Arten von Kooperationsproblemen gibt, die nach anderen Erklärungen verlangen. Die Diskussion von Olsons „Logik des kollektiven Handelns“ bot sich aber auch in anderer Hinsicht an, denn unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten betrachtet, ist die „Logik des kollektiven Handelns“ im Gegensatz zur Theorie der „Evolution der Kooperation“ ein Musterbeispiel einer ausgewogenen sozialwissenschaftlichen Theorie, die sich durch das Zusammenspiel von plausibler Verbalargumentation, wohldosierter und kontrollierter mathematischer Modellbildung und glaubwürdiger empirischer Beschreibung auszeichnet.

Schon die Tatsache, dass es verschiedene Varianten der Theorie der „Evolution der Kooperation“ gibt, und dass es daneben andere Kooperationsprobleme gibt, die durch eine andere Art von Theorie besser beschrieben werden, muss gewisse Zweifel an dem Anspruch der Theorie der „Evolution der Kooperation“ wecken, eine Generalerklärung für kooperatives Verhalten zu liefern. Offenbar sind die Situationen, in denen kooperatives Verhalten beobachtet werden kann, sehr vielfältig, und auch wenn es gelingt, die Vielzahl solcher Situationen auf eine kleinere Anzahl von Modellen zurückzuführen, dann verfügen wir immer noch über eine Reihe unterschiedlicher Erklärungen für unterschiedliche Formen von kooperativem Verhalten. Das bedeutet aber auch, dass es für die evolutionäre Herausbildung von kooperativem Verhalten nicht einen Grund, etwa die strategischen Vorteile bedingter Kooperation im Gefangenendilemma, sondern viele Gründe gibt. In unterschiedlichen Fällen ist die Kooperation durch unterschiedliche Faktoren bedingt. Nun wäre dieser Einwand an sich keinesfalls gravierend, denn wenn die Theorie der „Evolution der Kooperation“, die Kooperationsprobleme als wiederholtes Gefangenendilemma modeliert, auch keine Fundamentalerklärung für Kooperation liefert (die es wahrscheinlich gar nicht gibt), so ist damit nicht ausgeschlossen, dass sie bestimmte Fälle von Kooperation gut erklären kann. Dennoch zeigt sich hieran bereits eine Naivität, die leider symptomatisch für den ganzen Ansatz ist. So begründet Axelrod die Wahl des Gefangenendilemmas als Modell für seine Kooperationstheorie folgendermaßen:

Um bei der Untersuchung der enormen Menge spezifischer Situationen, die diese Eigenschaft besitzen [ein Kooperationsdilemma zu sein, E.A.], voranzukommen, ohne sich zu sehr in den Details einzelner Situationen zu verlerien, ist eine geeignete Darstellung der gemeinsamen Merkmale dieser Situation erforderlich. Glücklicherweise existiert diese in Form des berühmten Gefangenendilemma-Spiels. (Axelrod 1984, S. 6/7)

Um also überhaupt Kooperationsprobleme analysieren zu können, benötigt man ein Modell, und weil es irgendein formales Modell gibt, das irgendwelche Kooperationsprobleme beschreibt, glaubt man, gestützt auf dieses Modell, eine formale Theorie von Kooperation überhaupt liefern zu können. Aber warum sollte gerade das Gefangenendilemma das maßgebliche Modell von Kooperationsproblemen sein? Es gibt gute Gründe, dies zu bestreiten. Olson beispielsweise wendet ein, dass dem Gefangenendilemma höchstens eine untergeordnete Bedeutung zukommt, da es im Sozialleben in der Regel immer Möglichkeiten gibt, Defekteure zur Rechenschaft zu ziehen (Olson 2000, S. 81-83). Vielleicht ist das Gefangenendilemma dann eher ein geeignetes Modell für einen Hobbesschen Naturzustand? In der Tat scheinen manche Spieltheoretiker ja der Ansicht zu sein, dass der Hobbessche Naturzustand eine Art von Gefangenendilemma ist. Aber, wie wir noch sehen werden, scheitert das Modell gerade bei der Untersuchung des sogenannten „Hobbesschen Problems“ besonders drastisch.

Nun wäre es zweifellos unfair zu unterstellen, dass die Vertreter der Theorie der „Evolution der Kooperation“ sich der Tatsache nicht bewusst wären, dass ihre Theorie auf Abstraktionen beruht, und dass zahlreiche Faktoren, die bei Kooperationsproblemen, wie sie in der Wirklichkeit auftreten, relevant sein können, in der Theorie ausgeblendet werden. Nur stellt sich die Frage, ob sie die Vorsicht, zu der sie sich aus diesem Grund in den Vorwörtern ihrer Schriften selbst ermahen, bei der Konstruktion und Anwendung ihrer Modelle auch tatsächlich walten lassen. Diese Frage soll nun anhand einiger empirischer Beispiele untersucht werden.

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