Kann die evolutionäre Spieltheorie die Entstehung von Kooperation erklären?
Studie über die Schwächen eines formalen Ansatzes

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Theorie der „Evolution der Kooperation“
3 Die Erklärungsdefizite der Theorie der „Evolution der Kooperation“
    3.1 „Leben und leben lassen“ im ersten Weltkrieg
    3.2 Stichlinge und Buntbarsche
    3.3 Wenn weiche Wissenschaft harte Wissenschaft schlägt: Spieltheorie und klassische Gesellschaftsvertragstheorie
4 Fazit
5 Anhang: Quellcodes und Beispielsimulationen
6 Revisionsgeschichte
Literaturverzeichnis

3.2 Stichlinge und Buntbarsche

Wie am Beispiel des „Leben und Leben lassen“-Systems dargestellt wurde, ist es sehr schwierig historische Vorgänge durch formale Modelle präzise zu erfassen. Die entsprechenden Modelle müssten zugleich wirklichkeitsadäquat und robust sein. Aber auch wenn es theoretisch immer möglich ist, die Wirklichkeitsadäquatheit eines Modells durch den Einbau weiterer Faktoren zu erhöhen, so leidet meist gleichzeitig die Robustheit des Modells unter der zunehmenden Komplexität. Modelle, die nicht zugleich wirklichkeitsadäquat und robust sind, können bestenfalls noch dazu dienen, bestimmte Grundgedanken zu illustrieren, die dann allenfalls Eingang in eine (rein verbale) Erklärung eines historischen Vorgangs finden können, ohne aber selbst zur Erklärung etwas beizutragen.

Wenn es vor allem die Komplexität menschlichen Verhaltens ist, die der Theorie der „Evolution der Kooperation“ Erklärungshürden entgegenstellt, dann sollte man hoffen dürfen, dass sie im Bereich des tierischen Verhaltens, also in der Biologie, weniger Schwierigkeiten begegnet. Um dies zu untersuchen, sollen zwei empirische Studien von Manfred Milinski bzw. Milinski und Geoffrey Parker vorgestellt werden, die reziproken Altruismus bei Stichlingen beschreiben. Die frühre der beiden Studien (Milinski 1987) knüpft noch unmittelbar an Axelrods (und Hamiltons) Modell des wiederholten Gefangenendilemmas an. Die zweite, 10 Jahre später erschiene Studie (Milinski/Parker 1997), beschreibt dieselbe Situation auf eine ganz andere Weise. Insgesamt kann man daraus schließen, dass die Wahl einer angemessenen formalen Beschreibung von reziproker Kooperation oft ausgesprochen schwierige und gar nicht immer eindeutig zu entscheidende Einschätzungsfragen aufwirft. Vor diesem Hintergrund muss eine ohne konkreten empirischen Bezug vorgehende spieltheoretische Modellforschung einmal mehr als wissenschaftliches Glasperlenspiel erscheinen.

Das Phänomen, welches Milinski und Parker untersuchen, ist das Verhalten der „Räuberbeschauung“ (predator inspection), das sich bei Stichlingen beobachten lässt. (Darüber, welchen Zweck dieses Verhalten für die Stichlinge erfüllt, gibt es bisher nur Vermutungen, die dahin gehen, dass die Stichlinge auf diese Weise Informationen über die Art des Räubers, seinen Ort und Bewegungszustand gewinnen.) Nehmen Stichlinge in ihrer Umgebung einen Räuber (beispielsweise einen Buntbarsch) war, dann ist zu beobachten, dass sich einzelne Stichlinge aus dem Schwarm lösen und entweder allein oder in Paaren in die Nähe des Räubers schwimmen, wobei ein Paar von Stichlingen normalerweise sehr viel näher an den Räuber heranrückt als ein einzelner Stichling. Sofern sie paarweise auf den Räuber zuschwimmen, rücken die Stichlinge in einer ruckweisen Bewegung vor, dergestalt dass einer der Stichlinge ein kurzes Stück vorschwimmt und der zweite nachrückt (Milinski 1987, S. 433). Die naheliegende Annahme, das ruckweise vorrücken als eine Serie von Gefangenendilemma-Spielen zu interpretieren, in denen die Stichlinge Tit For Tat spielen, versuchte Milinski durch ein Experiment zu bestätigen, bei dem der „Partnerstichling“ durch unterschiedliche Arten von Spiegeln simuliert wurde, so dass der gespiegelte Fisch entweder auf gleicher Höhe (koooperativer Partner) oder etwas zurückversetzt (unkooperativer Partner) erschien. Es zeigte sich, dass die Stichlinge sehr viel näher an den Räuber heranschwammen, wenn sie von einem kooperativen Partner begleitet wurden. Milinski deutete dies als empirische Bestätigung für die Theorie Axelrods und Hamiltons. Im Groben trifft dies auch zu, wenn man einmal davon absieht, dass die Simulationsergebnisse Axelrods ziemlich kontingent sind, und nicht bereits - wie Axelrod freilich suggeriert hat - aus den Größenverhältnissen der Parameter des Gefangenendilemmas (T>R>P>S, 2R >T+S), auf deren Feststellung sich Milinski beschränkt (Milinski 1987, S. 435), da eine Messung der Parameter ohnehin nicht möglich ist, abgeleitet werden können.

In ihrem späteren Artikel liefern Milinski und Parker nach weiteren experimentellen Studien des Räuberinspektionsverhaltens von Stichlingen eine eingehendere formale Beschreibung der selben Situation. Diese Beschreibung stützt sich nicht auf das wiederholte Gefangenendilemma. Zwar ist es nach wie vor richtig, dass man den Fall, in dem zwei Stichlinge sich ihrem Räuber nähren in einem bestimmten Entfernungsbereich unter strategischen Gesichtspunkten möglicherweise als Gefangenendilemma auffassen kann, aber diese Feststellung allein gibt noch wenig Aufschluss über die Situation. Statt dessen untersuchen Milinski und Parker das (mögliche) Nutzenkalkül, welches das Verhalten der Stichlinge steuert. Auch ein einzelner Stichling wird sich bis zu dem Punkt dem Räuber nähren, an dem die Vorteile (durch Informationsgewinn) vom Risiko gefressen zu werden aufgewogen werden (Milinski/Parker 1997, S. 1241/1242). Für den Fall, dass sich zwei Stichlinge dem Räuber annähren, geben Milinski und Parker zwei alternative Beschreibungen an, eine die Kooperation voraussetzt (Milinski/Parker 1997, S. 1242) und eine weitere, die nicht unbedingt Kooperation voraussetzt (Milinski/Parker 1997, S. 1242-1245), ohne sich zwischen diesen beiden Alternativen endgültig zu entscheiden. Selbst wenn man keinen reziproken Altruismus voraussetzt, werden zwei Stichlinge nämlich näher an den Räuber heranschwimmen als ein einzelner Stichling. Die Distanz zum Räuber lässt sich dabei in drei Zonen unterteilen: In großer Entfernung vom Räuber („Fernzone“), lohnt es sich für jeden der beiden Fische näher an den Räuber heran zu schwimmen, selbst wenn der andere Fisch zurückbleibt. In mittler Entfernung (der sog. „match zone“) wird jeder der beiden Fische zum anderen aufschließen, sofern er selbst zurückgefallen ist, aber keiner der Fische hätte einen Vorteil davon, die Führung zu übernehmen (woraus sich ergibt, dass beide Fische nur noch synchron vorrücken können, sofern man nicht ein Minimum von Kooperation voraussetzt). In der „Nahzone“ schließlich, besteht die beste Antwort jedes Fisches darin, sich hinter den anderen zurückfallen zu lassen.

Wenn man das Verhalten eines Stichling-Paares in der Theorie sowohl als Ausdruck einer kooperativen als auch einer nicht kooperativen evolutionär stabilen Strategie beschreiben kann, dann stellt sich allerdings die Frage, ob die Stichlinge in Wirklichkeit nun kooperieren oder nicht kooperieren. Doch dies lässt sich nach dem bisherigen Stand der Forschung gar nicht ohne weiteres entscheiden. Milinski und Parker schreiben dazu in ihrem Fazit: „However, it is not yet possible to analyse quantitatively whether pairs are conforming to the cooperative or non-cooperative ESS.“ (Milinski/Parker 1997, S. 1245). Wie ist das aber mit dem Ergebnis der früheren Untersuchung zu vereinbaren, die doch Axelrods Theorie zu bestätigen schien? Der Widerspruch lässt sich dahingehend auflösen, dass die Schlussfolgerungen der früheren Untersuchung voreilig gewesen sind. Ein egoistisch rationaler Fisch hätte sich nicht so verhalten, wie der durch den Spiegel simulierte unkooperative Partnerfisch. Dementsprechend muss die Reaktion des echten Fisches (die darin bestand nicht über eine bestimmte Grenze, die - wie die spätere Analyse nahelegt - die Grenze der „Fernzone“ ist, hinaus zu schwimmen) keine „Bestrafung“ für unkooperatives Verhalten gewesen sein.

Das Ergebnis zeigt, wie schwierig es selbst in biologischen Zusammenhängen ist, Axelrods Theorie der „Evolution der Kooperation“ empirisch zu überprüfen. Insbesondere ist der Formalismus, der Axelrods Theorie zu Grunde liegt (das wiederholte Gefangenendilemma) wenig angemessen, um das von Milinski untersuchte biologische Verhalten zu beschreiben. Man kann vermuten, dass es sich bei anderen Beispielen von reziprokem Altruismus aus der Biologie ähnlich verhält. Das bedeutet aber, dass von der Theorie der „Evolution der Kooperation“ nur der Grundgedanke, gleichsam das Paradigma übrig bleibt (das bereits Trivers formuliert hat (Trivers 1971)), dass es ihr aber nicht gelingt, als verallgemeinernde Theorie eine Vielfalt von Einzelbeispielen der reziproken Kooperation zusammenfassend zu beschreiben (so wie etwa die Newtonsche Gravitationstheorie die Himmelsmechanik ebenso wie die Fallgesetze zusammenfasst). Auch liefert Axelrods Computerturnier kaum ein brauchbares Modell, nach dem man Beschreibungen für Einzelbeispiele generieren könnte. Dementsprechend fragwürdig erscheint es, durch Variation und Abwandlung von Axelrods Computerturnier Modellstudien zu betreiben, die losgelöst sind von jeder Empirie. Die Schwierigkeiten einer adäquaten Theoriebildung sind den Biologen dabei längst bewusst geworden. So schreibt Hammerstein: „Why is there such a discrepancy between theory and facts? A look at the best-known examples of reciprocity shows that simple models of repeated games do not properly reflect the natural circumstances under which evolution takes place. Most repeated animal interactions do not even correspond to repeated games.“ (Hammerstein 2003a, S. 83) und anschließend an eine lange Liste von Problemen, die die Theorie des reziproken Altruismus in ihrer gegenwärtigen Form betreffen, resümiert er den Katzenjammer der Theorie der „Evolution der Kooperation“ folgendermaßen: „Most certainly, if we invested the same amount of energy in the resolution of all problems raised in this discourse, as we do in publishing of toy models with limited applicability, we would be further along in our understanding of cooperation.“ (Hammerstein 2003a, S. 92)

Im Ganzen zeigt sich, dass die Anwendung der Theorie der „Evolution der Kooperation“ auch in der Biologie erheblichen Schwierigkeiten begegnet. Während sie bei dem zuvor besprochenen Beispiel des „Leben und leben lassen“-Systems im ersten Weltkrieg jedoch nicht einmal ansatzweise zur Verbesserung einer durch die historische Untersuchung schon längst gegebenen Erklärung beiträgt, hat sie in der Biologie zumindest einige interessante Forschungen angeregt, auch wenn sich die Theorie in der Form, die Axelrod und Hamilton ihr gegeben hatten, kaum als anwendbar erwies und durch andere formale Beschreibungen abgelöst werden musste. Wenn es stimmt, was Hammerstein behauptet, dass es kaum zweifelsfreie empirische Beispiele in der Biologie für reziproken Altruismus im Sinne Axlerods und Hamiltons gibt, dann ist das bezeichnend für die Erklärungsschwäche dieser Theorie selbst in einem Wissenschaftsbereich, von dem man erwarten sollte, dass er der abstrahierenden (und damit notwendigerweise vereinfachenden) formalen Theoriebildung vergleichsweise weniger Hindernisse in den Weg stellt als die Sozialwissenschaften.

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