Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung)

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
3 Voegelins Bewußtseinsphilosophie
    3.1 Voegelin über Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“
    3.2 „Zur Theorie des Bewußtseins“
    3.3 Die „anamnetischen Experimente“ Voegelins
    3.4 „Was ist politische Realität?“
    3.5 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewußtseinsphilosophie
4 Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
5 Schlußwort: Was bleibt von Eric Voegelin?
6 Literatur

3.3 Die „anamnetischen Experimente“ Voegelins

Den ersten Teils seines Werkes „Anamnesis“ schließt Voegelin mit der Wiedergabe einiger Kindheitserinnerungen ab. Es handelt sich um Schilderungen intellektueller Erlebnisse seiner Kindheit, in welchen zum erstenmal, in einer freilich dem zarten Alter entsprechenden Weise, die Fragen auftauchten, welche Voegelin sich später als Bewußtseinsphilosoph erneut stellte. Da diese Erinnerungen teilweise erst durch den Versuch wieder zu Tage traten, sich Rechenschaft über die ersten Anfänge jener Bewußtseinserlebnisse und Stimmungen abzulegen, die Voegelin als Philosoph untersuchte, spricht Voegelin von „anamnetischen Experimente[n]“,[196] deren Resultate diese Erinnerungen sind. Unter den recht reizvoll und oft mit Augenzwinkern erzählten Episoden, die Voegelin aus seiner Kindheit mitteilt, finden sich Stücke wie jenes von dem Karnevalszug, der in dem Kind eine dunkle Angst erregte, weil sich der Zug, da ihn einzelne Jecken immer wieder verließen, um in den Seitenstraßen zu verschwinden, am Ende aufzulösen schien.[197] In einer anderen Episode berichtet Eric Voegelin, der einen Teil seiner Kindheit in Königswinter nahe dem Siebengebirge verbrachte, von den drei Breibergen, die man vom Ölberg aus sehen kann. Dem Märchen zufolge muß man sich durch diese Breiberge hindurchfressen, um in das dahinter liegende Schlaraffenland zu gelangen. Die Angst des Kindes, dabei im Brei stecken zu bleiben, trübte sehr die Hoffnung auf das Schlaraffenland.[198] Andere Episoden teilen ähnliche Gefühle der Zweifelhaftigkeit des vollkommenen Glückes mit.[199] Wohlmöglich betrachtete Voegelin diese frühen Erfahrungen als Vorboten der späteren Skepsis des Politikwissenschaftlers gegenüber der Utopie.[200] In einer weiteren Episode schildert Voegelin den starken emotionalen Eindruck, den das Märchen vom Kaiser und der Nachtigall, die durch ihren Gesang den Tod dazu erweicht, vom Kaiser abzulassen, in ihm hinterlassen hat. Später fand Voegelin diese Stimmung aus seiner Kindheit im Märchen nicht mehr, wohl aber beim Anhören mancher Musikstücke wieder: „Die Bedeutung, die ein Musikwerk für mich hat, ist bestimmt durch den Grad, in dem es diese süße Beklemmung zwischen Tod und Leben wieder erregt.“[201]

Solcher und ähnlicher Art sind die von Voegelin wiedergegebenen Kindheitserinnerungen. Doch was soll mit ihrer Mitteilung bewiesen werden? In den einleitenden Vorbemerkungen zu seinen „anamnetischen Experimenten“ führt Voegelin die Thesen aus dem vorangehenden Aufsatz noch einmal auf: Das Bewußtsein ist kein Strom, es verfügt über vielfältige Transzendenzfähigkeiten und die Besinnung über das Bewußtsein greift Bewußtseinserlebnisse des Philosophen auf, die bereits sehr viel früher in seinem Leben erstmals zu Tage getreten sind. Weiterhin sieht Voegelin in den frühen Bewußtseinserlebnissen „Erfahrungseinbrüche“ und „Erregungsquellen“, „aus denen es zu weiterer philosophischer Besinnung treibt“. Die Intensität und Emotionalität[202] solcher „Erfahrungseinbrüche“ bilden für Voegelin den Maßstab der Radikalität, d.i. der Breite und Tiefe einer philosophischen Besinnung.

Sind aber solche Erfahrungen, wie Voegelin sie erzählt, für die Behandlung bewußtseinsphilosophischer Probleme überhaupt relevant? Sicherlich ist nicht für jedes philosophische Problem der Rückgang auf die Erfahrung seines ersten Auftretens erforderlich. Für die Lösung des zenonschen Problems etwa, wie aus unendlich vielen Einzelschritten ein kontinuierlicher Übergang entstehen kann,[203] spielt es sicherlich keine Rolle, wann und wie es zum erstenmal dem Philosophen, der es behandelt, begegnet ist. Auch wenn er es erst im Erwachsenenalter in einem Buch gelesen hat, hindert ihn nichts daran, dieses Problem angemessen zu erörtern. In welchem Falle ist es dann aber notwendig, auf die Problemerfahrungen zurückzugehen, und in welchem Fall nicht? Offensichtlich ist dies dann nicht erforderlich, wenn die Erfahrung nur den Anlaß gibt, über ein philosophisches Problem nachzudenken. Außer wenn es um Fragen der Selbsterkenntnis geht, hat das Erlebnis eines philosophischen Problems jedoch vermutlich nie eine andere Bedeutung als die, ein Anlaß des Nachdenkens zu sein. Dies gilt auch für die Probleme der Bewußtseinsphilosophie. Für die Lösung beispielsweise des Problems der Konstitution von Gegenständen ist zwar möglicherweise der Bezug auf innere Erfahrungen, nicht aber der Rückgang auf die ersten Erfahrungen dieser Art oder auf das erstmalige Erlebnis, daß es sich hier um ein Problem handelt, erforderlich. Im übrigen stünde eine Philosophie, die sich nur auf die eigenen inneren Erlebnisse des Philosophen stützt, vor dem Problem, daß sie bloß subjektiv gültige Ergebnisse liefern könnte.

Es scheint also, daß Voegelin die Bedeutung von „Erfahrungseinbrüchen“ für die Philosophie erheblich überschätzt hat. Deshalb ist es auch ein zweifelhaftes Unterfangen, die Philosophie an den vermeintlich zu grunde liegenden inneren Erlebnissen messen zu wollen, zumal dies die Gefahr birgt, daß dann in letzter Konsequenz die Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des Denkens mehr wiegen als die Qualität der Argumente. Eingeräumt werden muß allerdings, daß die Tiefe einer philosophischen Untersuchung wahrscheinlich auch durch die Intensität der zur Philosophie motivierenden Erfahrungen mitbestimmt ist, nur ist die Intensität der Motivation nicht der Bewertungsmaßstab für philosophische Werke. Unter den zur Philosophie motivierenden Erlebnissen dürften für die meisten Menschen dabei wohl die „Erfahrungseinbrüche“ der Jugend eine größere Rolle spielen als die der Kindheit. Aber Voegelins „anamnetische Experimente“ sind vermutlich eher als Beispiele zu verstehen, denn als eine vollzählige Auflistung.

Abgesehen davon bleiben Voegelins „anamnetische Experimente“ ein wenig hinter den Erwartungen zurück, die durch seine vorangegangenen Ausführungen geweckt werden. In den vorangegangenen beiden Abhandlungen kommt der mystischen Erfahrung des welttranszendenten Seinsgrundes eine zentrale Bedeutung zu. Für Voegelins These etwa, daß wir das Sein nur verstehen könnten als einen im welttranszendenten Seinsgrund entspringenden Prozeß, ist diese Erfahrung eine unabdingbare Voraussetzung. Damit diese These schlüssig wird, müßte es auch tatsächlich der Seinsgrund sein, der sich in dieser Erfahrung zeigt. Sollte es sich bloß um irgend ein überwältigendes Meditationserlebnis handeln, welches dann aus lauter Begeisterung eine Erfahrung vom Seinsgrund genannt wird, so wäre die These noch unzureichend begründet, denn der Prozeß des Seins kann sicherlich nicht einer Erfahrung im Bewußtsein entspringen. Voegelins „anamnetische Experimente“ bilden einen der wenigen Anlässe für Voegelin, von eigenen Erfahrungen zu berichten. Ein glaubhaftes und unzweideutiges Transzendenzerlebnis fördern Voegelins „anamnetische Experimente“ jedoch nicht zu Tage. Zwar deutet Voegelin in seinen Einleitenden Bemerkungen zu den anamnetischen Experimenten noch an, daß die Bewußtseinstranszendenz, die in „finiter Erfahrung“ in die Welt hinein führt, nur eine Art von Transzendenz sei, und er führt unter den verschiedenen Transzendenzerfahrungen, die in der Biographie des Bewußtseins schon lange vor dem Einsetzen der philosophischen Besinnung vorgegeben sind, auch die Erfahrung der Transzendenz in den Seinsgrund auf,[204] aber in den Kindheitserlebnissen läßt sich dann nichts mehr davon wiederfinden. Dort ist zwar von dem Schlaraffenland und auch von einer Wolkenburg die Rede, aber einen Hinweis auf irgend etwas, was auch nur annähernd als transzendente Seinsphäre oder gar als der Grund allen Seins gelten könnte, sucht man vergebens.

Endlich gibt es noch einen weiteren, mehr psychologischen Grund, der das Unterfangen, in Kindheitserinngerungen die „Erregunsquellen“ ausfindig zu machen, aus denen es im Erwachsenenleben „zu weiterer philosophischer Besinnung treibt“,[205] fragwürdig erscheinen läßt. Wenn wir im Erwachsenenalter rückblickend unsere Kindheit betrachten und uns dabei außerdem noch auf der Suche nach unseren eigenen geistigen Ursprüngen befinden, dann läßt es sich nicht immer vermeiden, daß wir in unsere Erinnerung etwas hineininterpretieren, was ursprünglich gar nicht vorhanden war. Die Gefahr einer Selbstmystifikation ist bei „anamnetischen Experimenten“ nur schwer zu umgehen. Es besteht hier übrigens eine Analogie zu jener größeren historischen „Anamnese“ der Wiedererweckung verschollenen Ordnungswissens aus den Quellen der antiken Philosophie und mittelalterlichen Theologie, wo bei Voegelin ebenfalls gelegentlich der Eindruck entstehen könnte, daß eine durch und durch moderne existentialistische Philosophie dem Denken der Alten aufgestülpt wird.

Voegelins Programm der „Anamnese“ scheitert im Ganzen also aus drei Gründen: Erstens ist die Genealogie eines Gedankens für den Gedanken selbst, d.h. für seinen Inhalt, seine Richtigkeit oder Falschheit, bedeutungslos. Zweitens führt das Verfahren der „Anamnese“ mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Verfälschung der Genealogie. Drittens gelangt man auf diesem Wege ebensowenig zu jener vermeintlich vorhandenen Transzendenz wie durch die philosophische Meditation.

[196] Voegelin, Anamnesis, S.61.

[197] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.64 (Nr. 3).

[198] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.65-66 (Nr. 5).

[199] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.66 (Nr.6), S.73-64 (Nr.16).

[200] Voegelin gibt keine Erläuterungen zu den einzelnen Episoden, die ihre Bedeutung für sein späteres Denken erklären könnten. Einige vorsichtige Deutungsversuche unternimmt Barry Cooper. Vgl. Barry Cooper: Eric Voegelin and the Foundations of Modern Political Science, Columbia and London 1999, S.204-207.

[201] Voegelin, Anamnesis, S.75 (Nr.18).

[202] Voegelin spricht wörtlich von der „Natur der Erfahrungseinbrüche“, der „Art der Erregungen“ und der „ `Stimmung' “ des Bewußtseins. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.61.)

[203] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.71/72 (Nr. 14: Der Laib Brot).

[204] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.61.

[205] Voegelin, Anamnesis, S.62.

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