Die Humanismuskritik Arnold Gehlens in seinem Spätwerk "Moral und Hypermoral"

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die philosophische Entwicklung Arnold Gehlens
3 Gehlens Humanismuskritik in „Moral und Hypermoral“
    3.1 Der Begriff des „Humanitarismus“ und Gehlens Kritik an der humanistischen Ethik
        3.1.1 Das historische Argument: Humanismus als Symptom der Dekadenz
        3.1.2 Das politische Argument: Humanismus als Gefahr für die Staatstugenden
        3.1.3 Das anthropologische Argument: Humanismus als überdehntes Familienethos
    3.2 Kritik der antihumanistischen Argumente Gehlens
4 Gehlens Programm der pluralistischen Ethik und der Vorwurf der Moralhypertrophie
5 Gegenentwurf: Hierarchische Ethik und Humanität als Primärtugend
6 Schluß
Literaturverzeichnis

3.1.3 Das anthropologische Argument: Humanismus als überdehntes Familienethos

Die Ethik zerfällt nach der Grundthese von Gehlens ethischem Pluralismus in verschiedene Ethosformen, die er als „Sozial-Regulationen“ bezeichnet, da sie dem Zweck dienen, das Zusammenleben des Menschen in arterhaltender Weise zu regulieren. Die verschiedenen Ethosformen alias „Sozial-Regulationen“ gehen auf unterschiedliche anthropologische „Instinktresiduen“ zurück. Gehlen zählt davon vier verschiedene auf: Gegenseitigkeit, physiologische Tugenden, Familienethos, Institutionenethos.[40] Der „Humanitarismus“ hat sich nach Gehlen aus dem Familienethos heraus entwickelt. Das Familien- und Sippenethos kommt als Grundlage des „Humanitarismus“ deshalb allein in Frage, weil nur dieses Ethos die entsprechenden Liebes- und Agressionshemmungsinstinkte bereitstellt. Ursprünglich bezogen sich diese Instinkte nur auf die (sinnlich-anschaulich bekannten) Familienmitglieder. Allerdings beobachtet man schon in vergleichsweise „primitiven“ Gesellschaften die Ausdehnung dieses Ethos auf die weitere Verwandtschaft, wobei „Verwandtschaft“ nicht unbedingt Blutsverwandtschaft bedeuteten muß, sondern durch kulturell sehr verschiedene Verwandtschaftssysteme festgelegt ist. Bereits auf dieser Stufe ist also eine Erweiterung („Elargierung“) des Ethos auf eine schließlich nur noch abstrakt gegebene Gemeinschaft angelegt, bei der nicht mehr jedes Mitglied alle anderen Gemeinschaftsmitglieder kennt. Der nächste Schritt der Elargierung des Familienethos' besteht in seiner Ausdehnung auf Königreiche, wobei der König als Vaterfigur die noch immer nötige familiäre Bezugsperson darstellt. Auf dieser Ebene tritt bereits jener klassische Konflikt zwischen Familie bzw. Sippe und Staat auf, der in einigen griechischen Tragödien, wie z.B. der „Antigone“ des Sophokles, seinen Niederschlag gefunden hat. In den nicht mehr archaischen Monarchien - Gehlen wählt hier als Beispiel den französischen Absolutismus - kommt noch eine weitere Konfliktlinie hinzu, nämlich die zwischen dem nunmehr auf den Staat bezogenen Familienethos, das im Ideal auf Liebe und Treue zum Monarchen einerseits und väterlicher Fürsorge des Monarchen andererseits beruht, und dem neuen Institutionenethos der Institutionen rationaler Herrschaft wie der Verwaltung und dem Heer.[41]

Der „Humanitarismus“ stellt nun nach Gehlen den letzten möglichen Schritt einer Erweiterung dar, nämlich die Erweiterung des Familienethos auf die ganze Menschheit. Gehlen sieht dies überaus kritisch und kann sich diesen letzten Schritt nur noch aus der bereits besprochenen politisch-instrumentellen Verwertung durch eine interessierte Schicht von Intellektuellen erklären: „...so sollte eine scheinbar unpolitische Binnenmoral der ,Menschheit' von einer überdehnten Hausmoral geliefert werden... Da wird doch der verdeckt politische Inhalt erkennbar, denn mit dieser Priorität würde man den Staatstugenden die Wurzeln abgraben, dem Behauptungswillen, der Treue zur eigenen Gründung, der wachsenden Sorgfalt und dem Willen, Grenze und Identität zu behaupten - mit einem Wort: dem Patriotismus. Auch wird klar, wer das Wort führt: der Intellektuelle der Großstadt, der Konformist der Negation, dessen ganze Geltungschance von einer Kritik abhängt, die schmerzend trifft.“[42]

Ein weiterer Grund, aus dem Gehlen das Familienethos - wenn auch nicht kategorisch so doch für die hohen Aufgaben von Politik und Kultur - ablehnt, ist es, daß seiner Meinung nach das Familienethos noch nie eine große kulturelle Leistung hervorgebracht hat: „alles was Größe hat: `Staat, Religion, Künste, Wissenschaften wurde außerhalb ihres Bereiches [des Bereiches der Familie, E.A.] hochgezogen“.[43]

[40] Vgl. ebda., S.47.

[41] Vgl. ebda., S.86-92.

[42] Ebda., S.92.

[43] Ebda., S.93

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