Die Humanismuskritik Arnold Gehlens in seinem Spätwerk "Moral und Hypermoral"

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die philosophische Entwicklung Arnold Gehlens
3 Gehlens Humanismuskritik in „Moral und Hypermoral“
    3.1 Der Begriff des „Humanitarismus“ und Gehlens Kritik an der humanistischen Ethik
    3.2 Kritik der antihumanistischen Argumente Gehlens
        3.2.1 Vorüberlegung zu Gehlens Methode: Entlarvungstechnik und empirische Ethik
        3.2.2 Kritik des historischen Argumentes
        3.2.3 Kritik des politischen Argumentes
        3.2.4 Kritik des anthropologischen Argumentes
            1.Die Überforderung des Einzelnen durch das Humanitätsethos
            2.Der Gehorsam und das Gewissen
4 Gehlens Programm der pluralistischen Ethik und der Vorwurf der Moralhypertrophie
5 Gegenentwurf: Hierarchische Ethik und Humanität als Primärtugend
6 Schluß
Literaturverzeichnis

1.Die Überforderung des Einzelnen durch das Humanitätsethos

Nimmt man an, daß eine bestimmte Institution - z.B. der nationalsozialistische Staat - unmenschlichen Zwecken dient, so kann man davon ausgehen, daß auch ein an abgelegener Stelle in dieser Institution tätiger Mensch irgendwann einmal mit dieser Unmenschlichkeit in Berührung kommen kann: Der Schreibtischtäter kennt die Anweisungen, die über seinen Schreibtisch laufen, der Bahnbeamte, der mit den Deportationszügen zu tun hat, weiß unter welchen Bedingungen die Deportationen stattfinden, der Hilfspolizist, der zu einer Massenerschießung befohlen wird, kennt die Verbrechen aus seinen eigenen Handlungen. Um die Unmenschlichkeit der Institution zu erkennen, muß ein Mensch in einer solchen Situation also keine weitläufigen Untersuchungen anstellen sondern lediglich dem mehr trauen, was er mit eigenen Augen sieht, als der Deutung, die er „von oben“ bekommt. Daß dies leider selten genug der Fall ist[71] spricht, da es im Prinzip leicht möglich ist, nicht dagegen es als Forderung aufzustellen. Nun könnte jedoch mit dem Hinweis geantwortet werden, daß es in den oben skizzierten Fällen, unter den Bedingungen einer totalitären Diktatur nur unter Lebensgefahr möglich gewesen wäre, sich dem Gehorsam zu entziehen. Darauf ist zu antworten, daß es eben Situationen gibt in denen ein Mensch nur die Wahl hat, entweder ein Held oder ein Schurke zu sein. Es ist nicht unbillig, zuweilen von Menschen Heldentaten zu fordern. Üblicherweise wird ja auch von jedem Soldaten, der in die Schlacht geschickt wird, erwartet, daß er für das Kriegsziel sein Leben riskiert. Bezogen auf den Zweiten Weltkrieg könnte man daher zugespitzt sagen: Mit dem selben Recht, mit dem von einem Soldaten der Alliierten gefordert wurde, sein Leben im Kampf gegen Hitler aufs Spiel zu setzen, hätte man von einem deutschen Soldaten fordern können, sein Leben beim Desertieren zu riskieren.[72] Wird also erwartet, daß der Einzelne auch für seine Institution verantwortlich ist, so übersteigt die Anforderung an das Heldentum des Einzelnen folglich nicht das übliche und von allen Nicht-Pazifisten ohne Widerspruch anerkannte Maß. Übrigens vertritt auch Gehlen die Auffassung, daß der Einzelne für das Agieren seiner Institutionen haftbar ist.[73] Konsequenterweise müßte der Einzelne dann auch die Pflicht (mindestens aber das Recht) haben, sich aus moralischen Gründen gegen das Ethos der Institution zu entscheiden.

[71] Vgl. Christopher Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibatallion 101 und die „Endlösung“ der Judenfrage in Polen, Hamburg 1996, S.208ff.

[72] Denkt man diesen Gedanken zu Ende, so gelangt man zu dem allgemeinen Grundsatz, daß jeder Soldat in jedem Krieg das Recht und die Pflicht hat, sich selbst die Seite auszusuchen, auf der er kämpft.

[73] Vgl. Gehlen, Hypermoral, S.98f.

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